DIENSTAG, 11.35 UHR

Vor Bruhns' Haus standen immer noch Heerscharen von Reportern. Henning schob ein paar von ihnen etwas rüde beiseite, wies sich vor den Beamten aus und klingelte. Es dauerte eine Weile, bis sich das Tor wie von Geisterhand bewegt öffnete und sich sofort wieder schloss, nachdem Henning und Santos das Grundstück betreten hatten. Sie waren auf dem Weg zum Haus, als das Handy von Henning sich bemerkbar machte. Er zog es aus seiner Jackentasche und meldete sich, die Rufnummer des Anrufers war unterdrückt. »Henning.«

»Herr Henning, wo sind Sie gerade?« »Wer will das wissen?«

»Können wir uns treffen? Ich habe ein paar sehr interessante Informationen für Sie. Ihre Kollegin können Sie selbstverständlich mitbringen, nein, Sie sollten sie sogar mitbringen.«

»Nur, wenn ich weiß, mit wem ich es zu tun habe.« »Sie können mir vertrauen. Ich hoffe, ich kann Ihnen vertrauen. Kommen Sie nach Mönkeberg, in die Straße Seeblick, ein hellgelbes Haus mit einem blauen Dach, nicht zu übersehen. Wenn Sie klingeln, blicken Sie bitte geradeaus, damit ich Sie auch erkennen kann. Wann können Sie hier sein?«

»Woher haben Sie meine Nummer?«

»Von einem guten Freund, der Ihnen einen Gefallen tun will. Noch mal: Wann können Sie hier sein?«

»In einer guten Stunde? Sagen wir um Viertel vor eins?«

»Gut, aber verspäten Sie sich nicht, ich brauche meine Mittagsruhe. Bitte kein Wort zu irgendwem, Frau Santos natürlich ausgenommen.«

Der Anrufer legte auf, und Henning sagte leise zu Santos, bevor sie das Haus betraten: »Wir sollen in einer Stunde in Mönkeberg sein.« »Bei wem?«

»Wenn ich das wüsste. Er behauptet, ein paar interessante Informationen für uns zu haben. Ich habe zugesagt, was hoffentlich in deinem Sinn ist.«

»Natürlich. Woher hat er deine Nummer?« »Angeblich von einem guten Freund, der uns einen Gefallen tun will.«

»Das wird ja immer mysteriöser.«

»Kommen Sie?«, fragte Victoria Bruhns aus dem Dunkel des Flurs heraus. »Ja, sofort.«

Sie begrüßten sich und begaben sich ins Wohnzimmer, wo Pauline in ihrer Ecke auf dem Boden spielte. Victoria Bruhns' Gesicht war verweint, sie wirkte übernächtigt. »Ist etwas passiert?«, fragte Santos besorgt. »Eigentlich nicht.« »Und uneigentlich?« »Ich möchte nicht darüber sprechen.« »Frau Bruhns, Sie können mit uns über alles reden, wir sind verschwiegen.« Einer Eingebung folgend, fügte Santos hinzu: »Hat es vielleicht mit Frau Hundt zu tun?« Sie erinnerte sich nur zu gut an das eisige Gespräch mit der Haushälterin und dass Victoria Bruhns vorhatte, ihr zu kündigen, was Santos ihr nicht verdenken konnte. Victoria Bruhns nickte nur und hatte Mühe, die Tränen zu unterdrücken. Sie nahm Platz und deutete auf die Sitzgarnitur, wischte sich mit einem Taschentuch über die Augen und sagte schließlich: »Ich habe ihr gestern Abend erklärt, dass ihre Tätigkeit in diesem Haus mit sofortiger Wirkung beendet sei. Sie aber sagte nur, so leicht lasse sie sich nicht abschieben. Wenn ich das wirklich tun würde, so würde sie Details an die Öffentlichkeit bringen, die nicht gut für mich wären. Ich weiß nicht, was sie damit gemeint hat.«

»Wie haben Sie auf diese Erpressung reagiert, denn anders kann man es ja wohl nicht bezeichnen?« »Ich habe ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben,

dass sie bis spätestens heute Abend das Haus zu verlassen hat, ich habe ihr bereits über einen befreundeten Makler eine Wohnung in der Innenstadt beschafft. Sie wollte noch eine Menge Geld, doch darauf lasse ich mich nicht ein, sie bekommt ohnehin eine großzügige Abfindung, wie es üblich ist, wenn die Kündigungsfrist vom Arbeitgeber nicht eingehalten wird. Sie ist eine Schlange.« »Ist sie da?« »Ja, oben.«

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich mit der Dame kurz unterhalte?«

»Meinen Sie, das wäre eine gute Idee?« »Ich würde ihr die Konsequenzen vor Augen führen, sollte sie Informationen an die Medien geben, die Ihnen schaden würden. Mehr nicht.«

»Sie hat mich vom ersten Moment an gehasst, als ich dieses Haus betreten habe. Sie hasst mich immer noch.« »Zeigen Sie mir doch bitte, wo Frau Hundt sich aufhält.«

»Im ersten Stock, gehen Sie einfach die Zimmer ab.« Santos erhob sich, verließ den Raum und begab sich nach oben. Frau Hundt war im Schlafzimmer und schien etwas im Schrank zu suchen.

»Guten Tag, Frau Hundt«, sagte Santos, worauf die Angesprochene zusammenzuckte und rot anlief. »Ja, bitte?« Rasch schloss sie die Schranktür. »Suchen Sie etwas?« »Nein, warum?«

»Sah so aus. Um es kurz zu machen, ich habe mit Frau Bruhns gesprochen, die mir von gestern Abend berichtet hat. Warum drohen Sie ihr?«

»Behauptet sie das?«, erwiderte Frau Hundt mit abfälligem Blick. »Sie lügt.«

»Ach ja? Das heißt, Sie verfügen nicht über heiße Informationen für die Presse?« »Und wenn?«

»Oh, dann würde ich mal sagen, dass wir als Erste Anspruch darauf haben, diese Informationen zu erhalten, denn sie könnten für unsere weiteren Ermittlungen relevant sein. Ich gebe Ihnen hiermit die einmalige Chance, sich mir gegenüber zu öffnen«, sagte Santos mit kaltem Lächeln.

»Was soll ich schon für Informationen haben? Das war doch nur so dahingesagt.«

»Ah, Sie geben also zu, Frau Bruhns gedroht zu haben. Ich sage Ihnen jetzt eins, und das sollten Sie gut im Gedächtnis behalten: Sollten Sie über Informationen verfügen, die für unsere Ermittlungen relevant sind, und diese zurückhalten, um sie später meistbietend an die Medien zu verhökern, werden Sie keine ruhige Minute mehr haben, das versichere ich Ihnen. Sie werden keine Anstellung mehr finden, denn Mund-zu-Mund-Propaganda funktioniert immer noch hervorragend in unserem Land. Glauben Sie mir, ich werde notfalls den Zünder auslösen. So, nun haben Sie zwei Möglichkeiten: Entweder Sie nehmen das großzügige Angebot von Frau Bruhns an und verlassen bis heute Abend dieses Haus, oder Sie werden in Zukunft ein kümmerliches Dasein fristen. Sie haben die Wahl. Ach ja, Frau Bruhns hat natürlich auch die Möglichkeit, Sie zwangsweise entfernen zu lassen. Ein Anruf bei uns genügt. Aber diese Schmach wollen Sie sich vor den Pressefritzen da draußen bestimmt ersparen. Habe ich recht?« »Aber ...«

»Kein Aber. Hier ist meine Karte, rufen Sie mich an, falls Sie mir etwas mitzuteilen haben, was die privaten und beruflichen Beziehungen von Herrn Bruhns betrifft. Dazu zählen auch Affären mit Minderjährigen. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja«, quetschte sie zwischen ihren schmalen Lippen hervor.

»Was haben Sie eigentlich in diesem Schrank gesucht?

Das ist doch gar nicht Ihr Zimmer.«

»Ich dachte nur, ich hätte etwas verlegt.«

»Gut. Sie haben es nicht gefunden, also brauchen Sie sich ja nicht mehr hier aufzuhalten. Sie haben ohnehin nicht mehr viel Zeit, um Ihre Sachen zu packen.«

Ohne ein Wort zu verlieren, ging Frau Hundt an Santos vorbei und die Treppe hinunter.

Na, hoffentlich hat sie's kapiert, dachte Santos und ging ebenfalls nach unten.

»Sie wird gehen und Sie in Ruhe lassen. Sollte sie trotzdem Schwierigkeiten machen, rufen Sie einfach an. Aber ich denke, ich habe ihr die Konsequenzen deutlich genug aufgezeigt, falls sie private Informationen an die Medien weitergibt. Bitte, verschließen Sie die Zimmertüren, soweit möglich, ich hatte das Gefühl, dass Frau Hundt eben geschnüffelt hat.«

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Diese Frau bringt mich noch um den Verstand. Seit ich hier eingezogen bin, hat sie mich behandelt wie ein kleines Kind oder wie eine seiner kleinen Nutten. Ich habe sie nicht ein einziges Mal lächeln oder gar lachen sehen. Ich hoffe, dieser Alptraum ist bald vorbei. Nach der Beerdigung meines Mannes werde ich definitiv weggehen, auch wenn ich noch nicht genau weiß, wohin.«

Henning blickte auf die Uhr und gab Santos ein Zeichen.

»Frau Bruhns, wir müssen los, wir haben einen wichtigen Termin in Mönkeberg. Falls irgendetwas ist, Sie wissen, wie Sie uns erreichen können. Einen schönen Tag noch.«

»Ihnen auch und nochmals danke für alles.«

»Sie brauchen uns nicht zu danken, wir tun nur unsere Pflicht. Tschüs.«

Victoria Bruhns begleitete die Beamten bis zur Tür und fragte dort: »Sollte nicht heute eine Hausdurchsuchung bei mir stattfinden?«

»Oh, das haben wir ganz vergessen. Das war unter anderem der Grund, weshalb wir hier sind. Nein, es wird keine Hausdurchsuchung geben, und wenn doch, werden wir Sie natürlich rechtzeitig informieren. Außerdem wollten wir Ihnen kurz mitteilen, dass Herr Weidrich letzte Nacht bei einem Schusswechsel getötet wurde. Er hat offenbar Ihren Mann ermordet.« »Weidrich? Wirklich? Kann ich mir irgendwie nicht vorstellen. Aber gut, Überraschungen gibt es immer wieder. Machen Sie's gut.«

»Eine Frage noch: Wissen Sie inzwischen, ob Ihr Mann ein Testament hinterlassen hat und wie Sie darin bedacht wurden?«

»Unser Anwalt hat mir mitgeteilt, dass es kein Testament gibt, lediglich ein notariell beglaubigtes Dokument mit dem, was ich Ihnen bereits erzählt habe. Er hat angedeutet, dass mir mindestens dreißig Prozent des Erbes zustünden. Er wird heute noch vorbeikommen und alles mit mir besprechen.«

»Dann viel Glück für die Zukunft. Aber ich denke, wir werden uns noch mal sehen.«

Victoria Bruhns schloss die Tür und begegnete im Flur Frau Hundt.

»Sie sind mich bald los. Und keine Angst, ich werde nichts über die kleinen und großen Schweinereien in diesem Haus ausplaudern, Frau Bruhns!« »Was haben Sie gegen mich? Habe ich Ihnen jemals etwas getan? Wenn ja, dann sagen Sie's mir doch geradeheraus.« »Sie verstehen die Welt nicht, Kleine. Erinnern Sie sich noch, wie ich Sie gewarnt habe, Ihren Mann zu heiraten? Sie waren angetrunken, aber ich habe Sie gewarnt, denn ich habe schon zu viele Frauen hier in ihr Unglück rennen sehen ...«

»Sie haben das nie gesagt, Sie haben mich von der ersten Sekunde an gehasst. Sie wissen nicht, was Sie da reden.«

»Ich glaube, ich bin die Einzige hier, die weiß, was sie redet. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen, ich muss packen, die Zeit drängt.«

Victoria Bruhns ging wieder ins Wohnzimmer und setzte sich zu Pauline auf den Boden. Das Mädchen lag auf dem Rücken und spielte mit einem kleinen Teddy. »Wir werden bald umziehen«, sagte Victoria Bruhns und streichelte ihrer Tochter über die Wangen. »Wir verschwinden aus diesem Höllenloch und gehen ganz weit weg. Ich hoffe, du wirst nie erfahren, wie dein Vater war.«

 

Eisige Naehe
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